Was ist "Hyperemesis gravidarum"?
Die wohl brennendste Frage für Betroffene ist die, was das ist, was mit ihnen gerade los ist. Es gibt einen Namen dafür und der lautet "Hyperemesis gravidarum". "Hyper-" kann man übersetzen mit "viel" und "Emesis" bezeichnet das Erbrechen. "Gravidarum" bedeutet Schwangerschaft. Somit heißt "Hyperemesis gravidarum" übersetzt: VIEL ERBRECHEN IN DER SCHWANGERSCHAFT.
Nun stellt sich die Frage: was ist "viel"? Und was ist "normal". Und hört man nicht von vielen Frauen den Satz: "Ich habe auch gespuckt zu Beginn der Schwangerschaft. Das ist ganz normal ..."? Tatsächlich gibt es zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema und es zeigt sich, dass Übelkeit und Erbrechen bis zu 80 % der Schwangeren betrifft. In der Literatur wird dieser „normale“ Zustand NVP genannt. NVP steht für "Nausea and Vomiting in Pregnancy" und heißt übersetzt "Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft". Diese NVP aber, welche von so vielen Schwangeren erlebt wird, unterscheidet sich von der Hyperemesis gravidarum – und zwar vor allem im Ausmaß des Übels. Tatsächlich gibt es ein Maß an Übelkeit und Erbrechen, das nicht normal ist. Es wurde darüber diskutiert, ob man diesen Zustand als "Krankheit" bezeichnen kann – und für die meisten Mediziner, die sich auf dieses Thema spezialisiert haben, steht es außer Frage, dass die Hyperemesis gravidarum eine Krankheit darstellt. Ob es sich bei dieser Erkrankung um eine krankhafte Steigerung der NVP handelt oder um eine eigenständige Erkrankung, welche auf andere Ursachen zurückzuführen ist als die NVP ist noch nicht geklärt. Das liegt einfach daran, dass noch zu wenig über die Ursachen der Hyperemesis gravidarum bekannt ist (vgl. Vikanes et al. 2012). Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass es nicht nur einen quantitativen Unterschied zur "normalen" Schwangerschaftsübelkeit gibt, sondern auch einen qualitativen Unterschied - doch das ist wie gesagt zum jetzigen Zeitpunkt noch Spekulation. Um zu unterscheiden, ob es sich um eine "normale" Schwangerschaftsübelkeit mit Erbrechen handelt oder um eine Hyperemesis gravidarum gibt es einige Kriterien.
Im Übrigen gibt es auch Autoren, die statt von einer „Hyperemesis gravidarum“ von einer „schweren NVP“ sprechen. Das sei noch erwähnt um mögliche Verwirrungen zu vermeiden. Was unter „schwerer NVP“ gemeint ist entspricht dem, was andere Autoren als „Hyperemesis gravidarum“ bezeichnen.
International Classification of Diseases der WHO:Das ICD-10 unterscheidet zwischen einer leichten Hyperemesis gravidarum ohne Stoffwechselstörung und einer Hyperemesis gravidarum mit Stoffwechselstörung, wie z. B.
Beschwerden rund um die Uhr:
Es ist ein Gerücht, dass Schwangeren nur am Vormittag übel ist und Schwangere nur am Vormittag erbrechen. Schon von der "normalen" Schwangerschaftsübelkeit weiß man, dass diese sich nicht unbedingt an Tageszeiten hält – genauso wenig wie die Hyperemesis.
Zeigen lässt sich das unter anderem an folgender Untersuchung: Gadsby interessierte sich 1993 für die Schwangerschaftsübelkeit im Allgemeinen. Er konnte zeigen, dass 80 % der Frauen an Übelkeit in der Frühschwangerschaft leiden. In seiner Erhebung war es 28 % der Frauen es „nur“ schlecht und 52 % der Frauen erbrachen auch. Von den 80 % der Frauen, die unter einer mehr oder weniger starken Übelkeit und/oder Erbrechen litten berichteten nur 3.8 % davon, dass ihnen ausschließlich zwischen 6.00 Uhr und 11.59 Uhr schlecht sei. 95.2 % der Frauen mit NVP hingegen war es sowohl vor als auch nach dem Mittagsläuten übel. Nicht nur die Übelkeit, auch das Erbrechen stoppte nicht mit der 12-Uhr-Glocke. Zwar zeigte sich eine leichte Häufung der Übelkeitsepisoden und eine deutlicher Häufung der Brechepisoden in den Vormittagsstunden, doch beides kam über den gesamten Tag verteilt vor. Genauso wie bei den von Gadsby untersuchten Frauen mit größtenteils "normaler" Schwangerschaftsübelkeit gibt es auch Frauen mit Hyperemesis gravidarum, welche den ganzen Tag unter ihren Beschwerden leiden. Nicht umsonst trägt ein amerikanischer Ratgeber einer Betroffenen den Titel: 24/7 um die 24-stündigen und sieben Tage die Woche andauernden Beschwerden zu beschreiben. Dass darüber hinaus bei manchen Frauen die Beschwerden am Nachmittag oder am Abend ihren Höhepunkt erreichen, darauf weisen Atanackovic et al. 2001 hin. Die Übelkeit:Noch anzumerken ist, dass viele Frauen berichten, dass sie sich gar nicht so sehr durch das Erbrechen belastet fühlen, als vielmehr durch die fortwährende Übelkeit. In der Fachsprache wird diese Übelkeit als "Nausea" bezeichnet.
Austrocknung/Dehydration:Probleme mit der Flüssigkeitsaufnahme werden von zahlreichen Betroffenen beschrieben. Mit großer Regelmäßigkeit taucht im www.hyperemesis.de-Forum die Frage auf, wer welche Getränke verträgt. Oft schreiben die Frauen davon, dass ihnen das Trinken schwer falle als das Essen. Tatsächlich ist in ganz, ganz vielen fachlichen Veröffentlichungen eingangs die Hyperemesis so beschrieben, dass daraus ersichtlich wird, dass die Autoren die Austrocknung für eines der wesentlichen Kriterien der Hyperemesis halten. Dementsprechend findet man auch Aufsätze, in denen die Infusionstherapie, die der Austrocknung entgegengewirkt, noch vor der Gabe von Medikamenten angeführt wird (z. B. bei Verberg 2005). Das Phänomen, dass Frauen, welche von Hyperemesis betroffenen sind unfähig sind, Flüssigkeiten über den üblichen Weg oral zu behalten, wird unter anderem erwähnt bei Alalade et al. 2007. Dieser beschreibt es als "inability to retain fluids orally".
Differenzialdiagnosen: Es gibt einige sogenannte Differenzialdiagnosen für die Hyperemesis gravidarum. Unter "Differenzialdiagnosen" versteht man diejenigen Erkrankungen, welche ebenfalls die bestehenden Beschwerden erklären könnten.
So kann es natürlich sein, dass eine Frau deswegen vermehrt Übelkeit erlebt und erbricht, weil sie zum Beispiel an einem akuten Magenproblem leidet. Es gibt einige Erkrankungen, welche vorliegen könnten und die in der Lage sind den Eindruck zu erwecken, dass es sich um eine Hyperemesis gravidarum handle – ohne dass es sich tatsächlich um eine Hyperemesis gravidarum handelt. Wenn vorschnell die Diagnose „Hyperemesis gravidarum“ gestellt wird, dann wird eine solche möglicherweise zugrundeliegende Erkrankung nicht erkannt. Auch aus diesem Grunde gehört eine Symptomatik, welche den Eindruck einer Hyperemesis gravidarum erweckt, aus meiner Sicht zwingend in die Hände von kompetenten Medizinern. |
Erkrankung oder Befindlichkeitsstörung?
Hyperemesis gravidarum ist eine Erkrankung. Ich zitiere an dieser Stelle stellvertretend Miller 2002, der sinngemäß der Meinung ist, dass es nicht möglich sei Geburtshilfe zu praktizieren ohne zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Übelkeit und Erbrechen eine wahre Erkrankung seien: "One cannot practice obstetrics for any length of time and not be impressed that nausea and vomiting is a real disease."
Hyperemesis gravidarum ist ein schwere Erkrankung:
Der dramatischen Effekt, den die Hyperemesis gravidarum auf das Leben der Betroffenen hat, wird von zahlreichen Wissenschaftlern hervorgehoben – genauso wie immer wieder betont wird, dass es sich um eine schwere Erkrankung handelt. Beispielhaft hier einige Zitate:
Noch ein Hinweis, den ich von der Internetpräsenz der amerikanischen Hyperemesis-Stiftung "HER Foundation Hyperemesis Education & Research" zum Thema "Nutritional Therapy" übernehme: Dort steht, dass in der Schwangerschaft eine Hungerphase über Wochen und Monate toleriert werde. Den schwangeren Frauen werde gesagt, dass dies nicht schädlich für sie selber und ihr Kind sei, während OP-Patienten üblicherweise bereits nach einer Woche künstlich ernährt werden würden. Dass solche langen Hungerphasen während der Schwangerschaft akzeptabel seien, dafür gäbe es in der Forschung laut den Autoren der HER-Homepage keinen Beleg und deshalb fordern sie, dass Frauen mit HG ebenfalls besser versorgt werden müssen.
Ist die Hyperemesis gravidarum eine Erkrankung, die nicht ausreichend ernst genommen wird?
Nicht nur Patientinnen beklagen, dass sie sich nicht ausreichend ernst genommen fühlen, auch einige Wissenschaftler benennen das Problem. Deshalb hier erneut ein Zitat von Attard et al. aus dem Jahre 2002. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Übelkeit und das Erbrechen in der Schwangerschaft klassischerweise als „begrenzter Dyskomfort“ beschrieben werden oder auch als „mild und selbstbegrenzend“. Solche Beschreibungen, so die Autoren weiter, lassen die Symptome trivial erscheinen. Der wahre Effekt der Übelkeit und des Erbrechens auf das Leben vieler Frauen werde so kleingeredet. Sie weisen darauf hin, dass eine bessere Achtsamkeit bezüglich des medizinischen Zustands, der Schwere der Symptome und deren Einfluss auf die Fähigkeit der Frauen, ihre Aufgaben zu meistern erforderlich seien, um in der Lage zu sein, effektive Therapieangebote zu machen …:
"To date, NVP has typically been described as “mild and self-limiting” or as a “limited discomfort” with only one in every 200 or 300 women requiring parenteral nutrition. These descriptions have made the symptoms appear trivial and the true effect that NVP has on many women’s lives has been minimized. Health caregivers are not well equipped to advise and support women who have NVP because the qualitative experiences with NVP have not been adequately documented. A better awareness of this medical condition, severity of its symptoms, and their influence on a woman’s functional status are required to be able to provide effective interventions that protect a woman’s health-related functional status."
Dauer der Erkrankung
Etliche Frauen berichten davon, dass ihnen gesagt worden sei, nach der 12. Schwangerschaftswoche habe das Übel ein Ende. Als dies dann nicht eingetreten war wurden sie auf die 16. SSW vertröstet und als das dann wieder nicht eingetreten ist ...
Bei manchen Betroffenen scheint die Hyperemesis tatsächlich ein lehrbuchgerechtes Ende zu finden. Andere Frauen aber erbrechen bis in den Kreissaal. Das das gar nicht so ungewöhnlich ist zeigt folgende Studie: Es gibt eine Publikation von Atanackovic et al. aus dem Jahre 2001. 225 Frauen mit schwerer Übelkeit und schweren Erbrechen nahmen an dieser Untersuchung teil. Dass die Autoren hier nicht von einer Hyperemesis, sondern stattdessen von einer schweren NVP (nausea and vomiting in pregnancy) sprechen ist bei dieser Arbeitsgruppe üblich – gemeint ist aber das gleiche Krankheitsbild. Interessant ist, dass bei allen in dieser Studie erfassten Frauen die Beschwerden über das erste Trimester hinausreichten. Die Forscher unterteilten die Patientinnen in zwei Gruppen: Eine, welche mit der normalen Dosis des untersuchten Antiemetikums behandelt wurde und eine, welche mit einer hohen Dosis behandelt wurde. In der ersten Gruppe fanden sie eine durchschnittliche NVP-Dauer von 21.7 Wochen (mit Schwankungen ±10.6. Das heißt, die Frauen litten zwischen 11 Wochen und 32 Wochen lang an NVP. Und damit sind die Wochen des Erbrechens gemeint und nicht die Schwangerschaftswochen! In der zweiten Gruppe litten die Frauen im Durchschnitt 25.3 Wochen ±9.6 Wochen lang an NVP, also zwischen 16 Wochen und 35 Wochen. |
Verwendete Literatur:
Was ist "Hyperemesis gravidarum"?
- Vikanes, A.; Magnus, P.; Vangen, S.; Lomsdal, S.; Grjibovski, A. M. (2012): Hyperemesis gravidarum in the Medical Birth Registry of Norway -- a validity study. In: BMC Pregnancy Childbirth 12 (1), S. 115. Online verfügbar unter http://www.biomedcentral.com/content/pdf/1471-2393-12-115.pdf: "Earlier research has been influenced by the fact that HG and the more common NVP have been studied as one and the same condition; but so far we do not know if or how these two conditions are related."
- Fejzo, M. S.; Poursharif, B.; Korst, L. M.; Munch, S.; MacGibbon, K. W.; Romero, R.; Goodwin, T. M. (2009): Symptoms and pregnancy outcomes associated with extreme weight loss among women with hyperemesis gravidarum. In: J Womens Health (Larchmt) 18 (12), S. 1981–1987. Online verfügbar unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2828197/
Beschwerden rund um die Uhr:
Gadsby, R.; Barnie-Adshead, A. M.; Jagger, C. (1993): A prospective study of nausea and vomiting during pregnancy. In: Br J Gen Pract 43 (371), S. 245–248.
Austrocknung/Dehydration:
- Verberg, M. F. G; Gillott, D. J.; Al-Fardan, N.; Grudzinskas, J. G. (2006): Hyperemesis gravidarum, a literature review. In: Human Reproduction Update 13 (2), S. 207. Online verfügbar unter http://humupd.oxfordjournals.org/content/13/2/207: "In most patients, i.v. fluid therapy, vitamin supplementation and electrolyte imbalance correction are sufficient to relieve symptoms and prevent serious complications. When patients fail to respond, antiemetic therapy is also administered."
- Alalade, A. O.; Khan, R.; Dawlatly, B. (2007): Day-case management of hyperemesis gravidarum: Feasibility and clinical efficacy. In: J Obstet Gynaecol 27 (4), S. 363–364.
Hyperemesis gravidarum als Erkrankung:
Miller, F. (2002): Nausea and vomiting in pregnancy: The problem of perception—is it really a disease? In: American Journal of Obstetrics and Gynecology 186 (5), S. 182–183.
Hyperemesis gravidarum als schwere Erkrankung:
- Attard, C. L.; Kohli, M. A.; Coleman, S.; Bradley, C.; Hux, M.; Atanackovic, G.; Torrance, G. W. (2002): The burden of illness of severe nausea and vomiting of pregnancy in the United States. In: American Journal of Obstetrics and Gynecology 186 (5), S. 220–227.
- van Stuijvenberg, M. E.; Schabort, I.; Labadarios, D.; Nel, J. T. (1995): The nutritional status and treatment of patients with hyperemesis gravidarum. In: Am. J. Obstet. Gynecol. 172 (5), S. 1585–1591.
- Fejzo, M. S.; Poursharif, B.; Korst, L. M.; Munch, S.; MacGibbon, K. W.; Romero, R.; Goodwin, T. M. (2009): Symptoms and pregnancy outcomes associated with extreme weight loss among women with hyperemesis gravidarum. In: J Womens Health (Larchmt) 18 (12), S. 1981–1987. Online verfügbar unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2828197/
- Heazell, A. E. P; Langford, N.; Judge, J. K.; Heazell, M. A.; Downey, G. P. (2005): The use of levomepromazine in Hyperemesis Gravidarum resistant to drug therapy—A case series. In: Reproductive Toxicology 20 (4), S. 569–572.
- http://www.helpher.org/hyperemesis-gravidarum/treatments/nutritional-therapy/index.php
Ist die Hyperemesis gravidarum eine Erkrankung, die nicht ausreichend ernst genommen wird?
Attard, C. L.; Kohli, M. A.; Coleman, S.; Bradley, C.; Hux, M.; Atanackovic, G.; Torrance, G. W. (2002): The burden of illness of severe nausea and vomiting of pregnancy in the United States. In: American Journal of Obstetrics and Gynecology 186 (5), S. 220–227.
Dauer der Erkrankung:
Atanackovic, G.; Navioz, Y.; Moretti, M. E.; Koren, G. (2001): The safety of higher than standard dose of doxylamine-pyridoxine (Diclectin) for nausea and vomiting of pregnancy. In: J Clin Pharmacol 41 (8), S. 842–845.
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Beschwerden, die auf eine Hyperemesis gravidarum hinweisen könnten, gehört immer in die fachkundigen Hände eines Mediziners. Nur dieser kann die im Einzelfall notwendigen Untersuchungen durchführen und erkennen, ob es sich überhaupt um eine Hyperemesis gravidarum handelt. Nur der Fachmann kann die möglichen Risiken managen und die Behandlung verordnen. Falls Sie betroffen sind: Zögern Sie nicht zu lange und wenden Sie sich an eine Hebamme oder einen Arzt Ihres Vertrauens oder gegebenenfalls an die Notaufnahme des Krankenhauses.
letzte Bearbeitung am 12.12.12 durch Anne Hutter